LADINO IN ISTANBUL – VERSUCH EINER WIEDERBELEBUNG

Ladino war die Sprache, die die 1492 aus Spanien vertriebenen Juden mit ins Osmanische Reich brachten. Deshalb sind Judeo-Espagnol und Spaniolisch im Grunde die treffenderen Bezeichnungen, da es sich um eine Form von Spanisch handelt, die sich als Sprache der sephardischen Juden über eine lange Zeit hin unabhängig entwickelt hat.

Ich wurde 1958 in der Türkei geboren. Zu dieser Zeit galt Französisch dort als die Lingua franca, es handelte sich also um ein wichtiges Statussymbol. Deshalb entschieden meine Eltern, die beide perfekt Französisch sprachen, daß meine erste Sprache Französisch sein sollte. Die Probleme begannen für mich in der Grundschule, weil ich kein Türkisch konnte. Die Lehrer rieten meinen Eltern, zu Hause Türkisch zu sprechen. So lernte ich meine zweite Sprache: Türkisch. Als ich älter wurde, begann meine Mutter ein reges gesellschaftliches Leben zu führen, und viele Freunde kamen zu uns zu Besuch. Alle sprachen Ladino, so lernte ich meine dritte Sprache.

Mein Bruder und ich wuchsen mit diesen drei Sprachen auf, die bei uns zu Hause alle durcheinander gesprochen wurden. Die einzige der drei Sprachen, die keinerlei Prestige hatte, war Ladino, vor allem weil man uns sagte, daß diejenigen, die sie sprechen würden, nie richtig Türkisch lernen könnten. Außerdem hieß es, daß man diskriminiert würde, wenn man mit einem jüdischen Akzent sprach.

Erst allmählich wurde uns die mit dieser Haltung zum Ladino verbundene Gefahr bewußt: die Vernichtung der Sprache. Niemand wollte diese Sprache mehr sprechen, und es gab auch fast kein zugängliches schriftliches Material für jene, die sich doch dafür interessierten. Alles, was wir lernten, ging übers Hören.

Selbst als sie noch in Spanien waren, schrieben die Juden das von ihnen gesprochene Spanisch niemals in lateinischen Buchstaben, sondern nutzten dafür das hebräische Alphabet. Nach Ausrufung der Republik im Jahr 1923 versuchte jedoch Atatürk viele Reformen zu implementieren, um aus den Überresten des Osmanischen Reichs ein modernes Land zu gestalten. Dazu gehörte der Übergang zum lateinischen Alphabet. Damit begann auch für das Ladino das Chaos. Manche jüdischen Gemeinden stützten sich auf das türkische Buchstabensystem (etwa »ş« für »sch«), manche auf das französische, und andere wählten eine hybride Form aus was immer ihnen am geeignetsten erschien. Dies ging über Jahre so und führte mit zum Niedergang des Ladino. Da es kein einheitliches Schreibsystem gab, begann man Ladino gar nicht mehr als Sprache zu betrachten, bis es schließlich in jeder Hinsicht zur aussterbenden Sprache wurde.

Die Menschen reagieren in der Regel immer erst, wenn es fast schon zu spät ist. Meiner Generation wurde in den frühen 1980er Jahren bewußt, was für einen Reichtum wir mit dieser Sprache und Kultur besaßen. Als erste türkische Universitätsstudentin (und die einzige für eine lange Zeit) forschte ich damals wissenschaftlich über Ladino in der Türkei. Die Musikgruppe, die ich mit Freunden gegründet hatte, Los Pasharos Sefaradis, erweckte das Interesse der jüdischen Gemeindemitglieder. Sie begriffen, daß sie sich der Kultur ihrer Vorfahren nicht zu schämen brauchten. Daß sich die Gemeinde schließlich dazu entschloß, den 500. Jahrestag der Ankunft der sephardischen Juden im Osmanischen Reich zu feiern, trug dazu bei, den Menschen klarzumachen, was sie im Begriff waren, zu verlieren.

Heute gibt es eine Art Wiederbelebung des Ladino. Das Interesse der akademischen Welt an dieser Sprache und ihrer Kultur führte auch zu einem wachsenden Interesse bei der jüngeren Generation, die der Sprache auf die eine oder andere Weise begegnet waren. Heute gibt es Zentren für Ladino-Studien in Israel, etwa an der Bar-Ilan-Universität und an der Ben-Gurion-Universität, und die Autoridad Nasionala del Ladino i su Kultura, eine staatlich geförderte Institution in Israel, widmet sich der Erforschung und dem Erhalt der Sprache. Die »Ladinokomunita« im Internet vereint heute mehr als 900 Menschen aus aller Welt, die in Ladino miteinander kommunizieren.

Im Jahre 2003 bot mir die jüdische Gemeindeverwaltung in Istanbul an, ein Zentrum zu gründen, das sich mit der Erforschung sephardischer Kultur beschäftigt. Für mich erfüllte sich ein Traum, den ich seit langem hegte. So entstand das Ottoman-Turkish Sephardic Culture Research Center. Das Zentrum hat viel getan, um Interessierte aus aller Welt zusammenzubringen. Zu den Veröffentlichungen in Ladino gehört unter anderem die sechzehnseitige monatliche Beilage der Zeitung Şalom, »El Amaneser«, sowie eine eigene Website (www.istanbulsephardiccenter.com).

Istanbul galt immer schon als eines der wichtigsten Zentren sephardischer Kultur. Entsprechend groß ist die Erwartungshaltung gegenüber der hiesigen Gemeinde. Als zweitstärkste Ladino-sprechende Gemeinde auf der Welt versuchen wir diesem Anspruch gerecht zu werden. Es gibt immer noch viele Muttersprachler, mit denen sich eine Datenbank für die Nachwelt aufbauen läßt. Seit 2005 gibt es hier auch Ladino-Sprachkurse. Dennoch wird Ladino nie wieder wie in der Vergangenheit eine Muttersprache sein. Eine Studie ergab, daß die jüngsten Muttersprachler 1945 geboren wurden. Nach ihnen wird Ladino nur mehr ein Kulturerbe sein.

Eine Sprache aber ist nie eine abstrakte Einheit in einem Vakuum. Eine Sprache ist eine lebende, atmende, sich entwickelnde Einheit, die gepflegt und gehegt werden muß, um zu überleben. Sie ist der Stauraum für die kollektiven Erinnerungen der Menschen und ihres Lebensstils. Ladino stellte einen wichtigen Teil türkisch-jüdischer Identität dar – und mit seinem Verschwinden geht dieser verloren. Dennoch bin ich nicht völlig hoffnungslos, sondern halte mich an das Motto von »El Amaneser«, der monatlichen Zeitungsbeilage in Ladino: »Kuando muncho eskurese es para amaneser« – Wenn es am dunkelsten ist, kommt die Dämmerung.

Aus dem Englischen von Gisela Dachs.